Wilhelm Steinitz wurde 1836 in Prag geboren, das heißt, er war ein Jahr älter
als Morphy. Seine Entwicklung als Spieler war langsamer als die
Morphy's. Langsam genug, um ihre Schachkarrieren nicht überlappen zu lassen. Sie spielten
nie gegeneinander.Der Ausgangspunkt seiner Laufbahn als Schachspieler
war fürSteinitz Wien im Ausklang des Jahres 1858, gerade als Paul Morphy seine triumphale
Reise nach Europa beendet hatte. Bis zum Jahre 1861 galt Wilhelm Steinitz als stärkster
Spieler Österreichs. Seine internationale Karriere begann mit dem starken Turnier von
London im Jahre 1862.
Das Londoner Turnier gewann Anderssen. Dieser galt
nach der Abreise von Paul Morphy und dem Rückzug von Staunton aus dem aktiven
Schachgeschehen als stärkster Spieler der Welt. Steinitz wurde sechster, hinter
Anderssen, Paulsen, Owen, MacDonnell und Dubois. Wir können zu Recht davon ausgehen, dass
Steinitz zu jener Zeit wesentlich schwächer spielte als Morphy . Steinitz galt zu dieser
Zeit als außerordentlich starker und schöpferischer Kombinationspieler. In London
spielte er gegen Mongredien eine seiner besten Kombinationspartien. Und so bekam er den
Spitznamen "Der österreichische Morphy". Niemand hatte die Wandlung seines
Stils vorhergesehen, die sich in den nächsten Jahren vollziehen sollte.
In den folgenden Jahren verbesserte sich das Spiel von Steinitz stetig. Er
gewann mehrere Zweikämpfe, unter anderem gegen Dubois und Blackburne. Schliesslich
spielte er ein Match gegen Anderssen
im Juli 1866 und siegte mit +8 - 6 = 0. Von nun an wurde er als stärkster Spieler der
Welt betrachtet, obwohl die nächsten Jahre unglücklich für ihn verliefen. Weder im
Turnier von Paris noch im Turnier von Baden-Baden im Jahre 1867, in dem er Anderssen den Vortritt lassen musste, vermochte er erste Preise
zu gewinnen.
Und doch war es während dieser Zeit, dass Steinitz's Stil eine revolutionäre
Wandlung erfahren sollte. Von einem in erster Linie taktischen Spieler verwandelte er sich
in den ersten strategischen Spieler der Schachgeschichte. Seine neue Erkenntnis war, dass
man nicht durch den Willen allein siegen kann, selbst wenn man noch so kreative Angriffe
ersinnt. Wenn keine Schwäche beim Gegner vorhanden ist, wird das nicht zum Erfolg
führen! Stattdessen ist Angriff der logische Abschluss der Anhäufung kleiner Vorteile,
die man sich in den Zügen zuvor verschafft hat. Diese Vorteile schlossen bessere
Entwicklung, mehr Raum, die bessere Bauernstruktur, das Läuferpaar usw. ein.
Steinitz war der Erste, der verstand, dass die Erfindungsgabe im Dienste der im
Schach vorhandenen internen Logik stehen muss. Und nur durch das Verständnis dieser Logik
ist es möglich, gegen starke Gegner zu gewinnen. Er demonstrierte die Wichtigkeit dieser
Standpunkte sowohl in seinen Schriften als auch in seinen Partien.
Steinitz's Entwicklung stellt den Beginn der Schachsystematik dar. Vor Steinitz
bestand die Schachtheorie im Wesentlichen aus einer Sammlung von Tricks und
Eröffnungsfallen. Mit Steinitz und seinen Anhängern begann die Theorie nicht nur die
Eröffnung zu untersuchen, sondern auch das Mittelspiel und das Endspiel. Und, was am
Wichtigsten war: man begann die logische Verbindung zwischen diesen verschiedenen Stadien
der Partie zu verstehen. Obwohl sich herausgestellt hat, dass die Theorien von Steinitz
nur als Richtlinien zu sehen sind, denen man nicht immer blind folgen darf, so sind sie
doch bis heute das Rückgrat moderner Schachstrategie geblieben.
Dieser neuartige, und für seine Zeitgenossen völlig fremde Stil, brachte
Steinitz nie gekannte Erfolge. Erste Plätze in den Turnieren von London 1872 und Wien
1873. Überwältigende Siege in den Zweikämpfen gegen Zukertort
1872 (+7-1=4) und Blackburne 1876 (+7-0=0). Zu diesem Zeitpunkt befand sich Steinitz auf
dem Höhepunkt seiner Karriere. Seine Überlegenheit über die restlichen Spieler in der
Welt war über jeden Zweifel erhaben.
Jedoch: nach seinem Wettkampf mit Blackburne spielte er sechs Jahre lang
überhaupt nicht mehr.
Dann, im Turnier von Wien im Jahre 1882, schaffte er es mit Mühe, zusammen mit
Winawer den geteilten ersten Preis zu gewinnen.
Schliesslich wurde er in London 1883 nur Zweiter, Zukertort
gewann das Turnier. Steinitz's Überlegenheit war durch die lange Zeit ohne Praxis
dahingeschmolzen. Wieder war es zweifelhaft , ob er der Beste war. Die meisten Leute
hielten Zukertort für stärker.
Schliesslich, im Jahre 1886, beschlossen beide Spieler einen Wettkampf auszutragen. Was diesen Zweikampf besonders
interessant macht ist die Tatsache, dass beide Spieler entschieden, der Gewinner werde der
offizielle "Weltmeister" sein. Dieser Titel war bis dahin im Schach unbekannt.
Das Match verlief sehr aufregend und Zukertort
führte nach der ersten Partienserie, die in New York abgehalten worden war, klar. Aber
während der nächsten Wettkampfphase, die in St.Louis stattfand, konterte Steinitz. Und
schließlich, während der letzten Phase des Wettkampfs in New Orleans triumphierte er
endgültig. Das Schlussresultat des Wettkampfs war +10-5=5 für Steinitz. Somit war
Steinitz der erste Weltmeister der Schachgeschichte geworden!
Nach dem Titelgewinn konzentrierte sich Steinitz auf seine schriftstellerischen
Tätigkeiten und spielte in den folgenden acht Jahren ausschließlich Zweikämpfe.
Er gewann ziemlich überzeugend im Jahre 1889 gegen Tschigorin (+10-6=1) und
1890/ 91 gegen Gunsberg (+6-4=9).
Die Veröffentlichung von Steinitz's "Modern chess instructor", wo
mehrere taktisch zweifelhafte Eröffnungsvarianten wegen ihrer offenbaren strategischen
Logik empfohlen wurden, führte zu einem Kabelmatch gegen Tschigorin, das Steinitz verlor.
1892 wurde daraufhin ein Weltmeisterschaftskampf zwischen Steinitz und
Tschigorin ausgetragen, den Tschigorin auf dramatische Weise verlor (Schlussergebnis:
+10-8=5 für Steinitz). Steinitz war nun 56 Jahre alt, aber es war klar, dass er seinen
schachlichen Höhepunkt überschritten hatte.
Und schliesslich spielte er 1894, mit 58 Jahren, in New York und Montreal einen
Wettkampf um die Weltmeisterschaft gegen einen
praktisch unbekannten Spieler namens Emanuel Lasker. Lasker
gewann leicht (+10 - 5 = 4).
Nach diesem Match nahm Steinitz's schachliches Können rapide ab. Er spielte
noch in einigen wichtigen Turnieren: Hastings 1895,
St.Petersburg 1895/96, Nürnberg, 1896, aber ohne Erfolg.
Im Jahre 1896/97 wurde in Moskau ein zweites
Match gegen Lasker arrangiert. Steinitz verlor überwältigend: +2-10=5.
Nach diesem zweiten Wettkampf verschlechterte sich sein psychischer Zustand
schnell. Psychisch krank und verarmt starb er 3 Jahre danach im Jahre 1900 im Alter von 64
Jahren. Mit dem Beginn eines neuen Jahrhunderts verlosch gleichzeitig der Stern des alten
Jahrhunderts: Wilhelm Steinitz, einer der ganz Großen am Schachhimmel.