Hastings 5.August 1895/ England

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Emanuel Lasker
In England fand ein Turnier statt, das in der bisherigen Schachgeschichte seinesgleichen suchte. Es fand auf Initiative des Schachklubs des englischen Kurortes Hastings statt und führte die stärksten Schachspieler der Welt zusammen. Nur zwei der Eingeladenen konnten nicht nach England kommen: Simon Winawer und Emil Schallopp. Im Mittelpunkt des Interesses stand natürlich das Mitwirken des Weltmeisters, des Exweltmeisters und zweier Hauptkandidaten. Die ,,Deutsche Schachzeitung" schrieb in jenen Tagen: ,,Allein schon die Tatsache, dass sich unter den Teilnehmern des Turniers das Viergestirn Lasker - Steinitz. - Tarrasch - Tschigorin befindet, verleiht ihm schachhistorische Bedeutung." Unter den 22 Anwärtern auf die ersten Preisplätze waren auch solche Koryphäen wie Joseph Blackburne, Isidor Gunsberg, Curt von Bardeleben, Amos Burn, Emanuel Schiffers. Am ältesten war Henry Bird mit 65 Jahren, am jüngsten Karl Schlechter aus Österreich mit 21 und Harry Nelson Pillsbury aus den Vereinigten Staaten mit 22 Jahren. Nur diese beiden und der 23jährige Karl August Walbrodt aus Deutschland waren jünger als der Weltmeister.
Das Turnier begann am 5. August 1895. In der ersten Runde gewann Lasker ziemlich schnell - bereits im 29. Zuge - gegen Georg Marco. Er beeilte sich indes nicht, den Turniersaal zu verlassen. Seine Aufmerksamkeit galt der scharfen Auseinandersetzung zwischen Tschigorin und Pillsbury. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass drei weiße Freibauern im vorliegenden Fall stärker waren als der gegnerische Turm und einen baldigen Sieg garantieren mussten, begab sich Lasker in den Nebenraum, wohl um eine andere Partie zu betrachten oder ... Inzwischen rückte Tschigorin einen der Freibauern auf die 8. Reihe vor und stellte auf das Feld g8 einen umgedrehten Turm, was in der Sprache der Schachspie1er eine Dame(!) bedeutete. Dann eilte er ins Nachbarzimmer. um sich eine entsprechende Originalfigur zu holen. Ihm entgegen kam Lasker mit drei weißen Damen in den Händen. Sie dem erstaunten Meister entgegenstreckend, fragte er mit ernster Miene:

,,Ich hoffe, sie werden Ihnen reichen. Gospodin Tschigorin!"

Lasker war nicht ohne Humor und liebte einen Spaß. In der zweiten Runde führte das Los Lasker mit Tschigorin zusammen. Dies war ihre erste Partie und ... der Weltmeister zog den kürzeren.

Am nächsten Tag traf Lasker auf den talentierten österreichischen Meister und künftigen Weltmeisterschaftsanwärter Karl Schlechter. Von der aggressiven Einstellung des Champions zeugte schon die Wahl der Eröffnung - erstmals entschied er sich für die Sizilianische Verteidigung.

In der vierten Runde erlitt Lasker erneut eine Niederlage, diesmal gegen Curt von Bardeleben. Dieser Turnierverlauf bot eine eigenartige Parallele zum Beginn des Wettkampfes gegen Steinitz: 1, 0, 1, 0. Sprachen derartige Ergebnisse dort für eine Ausgeglichenheit der Kräfte und die Härte des Kampfes, bedeuten 2 Punkte aus 4 möglichen in einem Turnier ein ernsthaftes Zurückbleiben hinter dem Tabellenführer. Offenbar machte sich hier die fehlende Erfahrung Laskers in einem so stark besetzten Turnier bemerkbar. Hinzu kam, dass er seit zwei Jahren überhaupt an keinem Turnier mehr teilgenommen hatte .. Währenddessen setzte sich Steinitz an die Spitze. Nach fünf Runden konnte er das ausgezeichnete Resultat von 4,5 Punkten aufweisen. Lasker aber lag schon 1,5 Punkte zurück. In der sechsten Runde trafen beide aufeinander. Lasker hatte Weiß. Wie mehrfach in ihrem Wettkampf spielten die Kontrahenten eine Spanische Partie. Nach dem 17. Zuge von Schwarz Se7 - g8 ergab sich eine einzigartige Stellung, in der noch kein einziger Bauer abgetauscht worden war und alle schwarzen Figuren auf der 8. Reihe standen!

Es hat den Anschein, als sei der schwarze Damenflügel noch gar nicht ins Spiel gekommen. Dem ist aber nicht so: Sowohl der Springer als auch der Läufer haben schon am Kampfgeschehen teilgenommen, sind dann aber plötzlich wieder nach Hause zurückgekehrt. Steinitz hielt seine Stellung wahrscheinlich für völlig annehmbar, vielleicht sogar für gut, weil sie keine erkennbaren Schwächen aufweist, während der Gegner seine Bauernstruktur am Königsflügel bereits "kompromittiere". Lasker, der viele seiner Prinzipien teilte, konnte in der vorliegenden Situation indes nicht mir seinem ,,Lehrer" übereinstimmen. Für seinen aktiven Stil gab es genügend Wege, den Entwicklungsvorsprung seiner Figuren zu verwerten. In den folgenden vier Runden verbuchte Lasker vier (!) Siege. Steinitz dagegen verlor drei Partien hintereinander und gewann nur eine. Aber was für eine! In der Begegnung mit einem der Spitzenreiter, Bardeleben. der bis dahin noch keine Niederlage einstecken musste, verwirklichte er eine denkwürdige Kombination, die in der Geschichte des Weltschachs einen bleibenden Platz fand. Für Bardeleben war diese Niederlage ein schwerer Schlag, von dem er sich nicht mehr erholte, so dass er aus dem Kampf um den ersten Platz ausschied‘ um den sich nunmehr nur noch drei Spieler bewarben - Lasker, Tschigorin und ... Pillsbury! Vollkommen überraschend für viele, demonstrierte der fast unbekannte amerikanische Meister, der das Turnier mit einer Niederlage begonnen hatte, eine beneidenswerte psychologische Stabilität und gewann eine Partie nach der anderen. Auch sein Misserfolg in der zwölften Runde, als er gegen Lasker den kürzeren zog, konnte ihn nicht beirren.

Eine andere Überraschung des Turniers war, dass Siegbert Tarrasch sich nicht unter den Spitzenreitern befand. Nach fünfzehn Runden lag er auf dem 9. Platz. Er rechtfertigte sein unbefriedigendes Spiel damit, dass die Seeluft auf ihn ermüdend wirke. Im übrigen lieferte er dafür auch den Beweis: Während der Partie gegen Richard Teichmann schlief er tatsächlich ein und ... überschritt die Zeit. Auf einem Bankett, das am 22. August, einem spielfreien Tage, stattfand, meinte Tarrasch diplomatisch, dass das schlechte Abschneiden einiger Teilnehmer durchaus entschuldbar sei:

,,Die Stadt ist zu bezaubernd, sie beschert zu viele beglückende Eindrücke." Über dieses Bankett schrieben die Zeitungen, dass sich die Speisekarte ,,durch Erlesenheit auszeichnete und von der kulinarischen Kunst der viktorianischen Epoche geprägt war. Am Abend herrschte Ausgelassenheit, es wurden Toaste ausgebracht und einige seriöse Reden gehalten. Lasker sprach über den Nutzen von Schachveranstaltungen und teilte dann mit, er werde seinen ständigen Wohnsitz nach England verlegen, das er als seine zweite Heimat ansehe. Steinitz erklärte, dass dieses Turnier eine neue Ära des Schachs einleite. Tschigorin dankte dem Komitee für das aufmerksame Verhalten und nutzte die Gelegenheit, ein bevorstehendes Turnier in Petersburg anzukündigen."

Gegen Ende des Turniers hatte sich Tarrasch ,,akklimatisiert" und landete, nachdem er sechs Partien in Folge gewann, schließlich noch auf dem 4. Platz. In einer von ihnen war ihm allerdings das Lächeln Fortunas hold, über das sich Tarrasch gern so weitschweifig ausließ, wenn es andere begünstigte ... Dies geschah in der neunzehnten Runde, als er gegen Lasker zu spielen hatte, der zu diesem Zeitpunkt mit 14,5 Zählern die Tabelle anführte, wobei er einen halben Punkt vor Tschigorin und einen ganzen vor Pillsbury lag.

In einer Spanischen Partie erlangte Tarrasch mit Weiß ein kleines positionelles Übergewicht. Lasker verteidigte sich originell und postierte seinen König vor den Bauern des Damenflügels auf der 6. Reihe. Tarrasch, der viel Zeit verbrauchte, um die "besten Züge" zu finden, büßte unmerklich die Initiative ein, und im 25. Zuge leitete Lasker mit Td7 - d5 selbst aktive Operationen ein.

Es lässt sich denken, wie verärgert Lasker war, als er gegen Tarrasch verlor, zumal er vorher schon gegen Tschigorin und Bardeleben den kürzeren zog, d. h. gerade gegen jene Schachspieler, die Zweifel an der Berechtigung seiner Weltmeisterwürde hegten. Erwähnt sei, dass Lasker fortan auf Turnieren nie wieder gegen Tarrasch verlor!

Zum ersten und letzten Mal in seiner Schachkarriere verhielt sich Lasker nach einer Niederlage nicht wie ein weiser Philosoph, sondern wie ein Hasardeur, und die Strafe folgte auf dem Fuße. In der nächsten Runde musste er eine weitere Schlappe hinnehmen, diesmal gegen den die gesamte Partie ausgezeichnet spielenden James Blackburne. Im Endergebnis kam der Weltmeister auf 15,5 Punkte und belegte den 3. Rang. Erster wurde Pillsbury mit 16,5, Zweiter Tschigorin mit 16 Punkten. Vierter blieb Tarrasch mit 14, Fünfter war Steinitz mit 13 Punkten. Interessant erscheint, wie diese ,,großen Fünf" untereinander abschnitten. Das beste Resultat verzeichnete Tschigorin mit 3 Punkten aus 4 möglichen. Lasker, Pillsbury und Tarrasch verbuchten 2 Punkte, Steinitz 1 Punkt. Verblüffend war dabei ihre Kompromißlosigkeit: Sie teilten untereinander keinen einzigen Punkt! Beurteilt man die Resultate von Hastings insgesamt, hat Lasker die schwere Prüfung zweifellos bestanden. Selbst Tarrasch musste dies eingestehen, wenngleich mit einer Portion Ironie und in herablassendem Tone: "Der dritte Preisträger Lasker wies erstmals nach, dass er ein sehr starker Spieler ist."

So schrieb man über einen Weltmeister! Wer war denn nun wirklich der Stärkste? Diese Frage sollte das Petersburger Wettkampfturnier klären, zu dem alle fünf Sieger eingeladen wurden. Überraschend verzichtete indes gerade Tarrasch auf die Teilnahme, was er mit beruflicher Unabkömmlichkeit begründete.