Nach dem Tode
Pillsburys am 17. Juni 1906 blieben noch drei Anwärter, die sich um einen Wettkampf mit
Lasker bewarben Tarrasch, Janowski und Marshall. Wem sollte er den Vorzug geben?
Lasker erklärte sich bereit, mit jedem zu spielen, der seine Bedingungen annähme.
Mißlungene Versuche hatten schon alle unternommen. Schließlich entschloß sich Marshall,
zunächst mit jenen zu spielen, die den Weltmeister bereits vor ihm herausforderten, um so
das moralische Recht zu erwerben, der Erste unter den Kandidaten zu sein. Wie bereits
erwähnt, hatte er Anfang 1905 in Paris gegen Janowski gewonnen. Im Herbst des gleichen
Jahres traf Marshall in Nürnberg auf Tarrasch und ... erlitt ein Fiasko: Das Ergebnis
zugunsten des deutschen Meisters lautete +8, -1, =8! Nach einem solchen Abschneiden war es
selbstverständlich schwer, Mäzene zu finden, die ihm einen Wettkampf mit Lasker
ermöglicht hätten. Wie die Luft zum Atmen brauchte er einen Sieg, der in der Welt
zählte. Und diesen errang er im nächsten Jahr,
ebenfalls in Nürnberg, auf dem Kongreß des Deutschen Schachbundes. Marshall verlor keine
einzige Partie, holte 12,5 Punkte aus 16 möglichen und überflügelte den zweiten
Preisträger, den böhmischen Meister Oldrich Duras, einen aufgehenden Stern am
Schachhimmel, um anderthalb Punkte. Er erzielte 5.5 Punkte mehr als Tarrasch, der nur den
11. Platz belegte, und 8,5 Punkte mehr als Janowski, der sich mit dem polnischen Meister
David Przepiorka den letzten Platz teilte. Der 29jährige Marshall fühlte sich erneut in
seiner Zuversicht bestärkt und übermittelte Lasker eine Herausforderung.
Und der Weltmeister? In diesen Jahren lebte er in Amerika,
brachte in New York sein Schachjournal heraus, gab Simultanveranstaltungen, hielt
Vorlesungen. Nur einmal, im Juli 1906, nahm er an einem kleinen doppelrundigen Turnier in
der amerikanischen Kleinstadt Trenron Fals im Staate New York teil. Außer ihm wirkten
noch drei Spieler mit Curt, Fox und Raubicek, und Lasker kam mit 5 Punkten aus 6
Partien (+4, -0, =2) leicht zum Erfolg.
Nachdem er die neue Herausforderung erhalten hatte, beschloß
Lasker, in seinen finanziellen Forderungen herunterzugehen, weil er spürte, daß in der
amerikanischen Öffentlichkeit ein großes Interesse an diesem Wettkampf bestand.
Und als alle Vereinbarungen unter Dach und Fach waren, konnte
der siebente Wettkampf in der Geschichte der Schachweltmeisterschaften in New York
beginnen. Dies geschah am 26.Januar 1907, zehn Jahre nach der Wettkampfrevanche
Lasker - Steinitz. Diesmal spielten die Kontrahenten, wie von Lasker gefordert, auf 8
Gewinnpartien.
Schon die ersten Treffen zeigten, wie gegensätzlich die Partner
in ihrem Herangehen an den Schachkampf, in ihrem Stil und in ihrem Eröffnungsgeschmack
waren. Auch in ihrem Charakter und dem Äußeren unterschieden sie sich gewaltig, sieht
man einmal davon ab, daß beide leidenschaftliche Zigarrenraucher waren ... Klein an
Wuchs, zurückhaltend in seinen Bewegungen, bewundernswert kaltblütig in den schärfsten
Momenten des Kampfes, angefüllt mir einer kolossalen Phantasie und gleichzeitig die
Quintessenz der positionellen Lehre nie außer acht lassend, alle Nuancen in den
Gemütsbewegungen des Gegners spürend und die geringsten Versehen fein nutzend so
stellte sich der Weltmeister den amerikanischen ,,Fans" dar. Er machte den Eindruck
einer rätselhaften Sphinx, der alle Geheimnisse der Schachkunst untertan waren!
Frank Marshall war zehn Jahre jünger und von beeindruckendem
Äußeren: fast zwei Meter groß, mit sorgfältig rasiertem Gesicht und dem Profil eines
Mephisto. Uhrkette und Krawatte zierten bronzene Springer. Darin widerspiegelte sich
offensichtlich auch die Natur des Schachspielers - eines Romantikers auf dem
Schlachtfeld, eines prägnanten Verfechters des Kombinationsstils, eines Meisters der
Attacke und des Gegenangriffs, eines Kenners der Eröffnungstheorie, eines kühnen Ritters
des Schachbretts!
Lasker war in internationalen Turnieren erst zweimal auf ihn
getroffen: 1900 in Paris zog er den kürzeren, 1904 in Cambridge
Springs endete die Partie remis. Trotzdem zweifelte er nicht an seinem Erfolg, weil er
inzwischen genügend Zeit fand, seinen Gegner zu studieren, seine starken und schwachen
Seiten zu erkennen. Marshall war ein großer Turnierspieler, doch in Wettkämpfen, in
denen er es ständig mit demselben Gegner zu tun hatte, vermochte er nie an seine besten
kämpferischen Qualitäten anzuknüpfen. Dies bewies auch sein Zweikampf mit Tarrasch.
Deshalb konnte Lasker innerlich davon überzeugt sein, daß viele Komponenten in dem
bevorstehenden Duell für ihn sprechen würden.
Schon in der 1. Partie überraschte er seinen Gegner, als er im
13. Zuge einen Springer opferte. Dies war für Marshall ein schwerer psychologischer
Schlag, galt er doch selbst als ein glänzender Meister der Opferkombination und hatten
die Amerikaner doch gerade von ihm ein solches Spiel erwartet.
Nach dieser Niederlage spielte Marshall in allen seinen
Weiß-Partien nur noch 1.d2-d4. Ebenso beständig entschied sich Lasker für 1.e2-e4. Auch
in den Eröffnungen gab es keine große Vielfalt Damengambit (mir einer Ausnahme,
als Lasker f7-f5 antwortete) und Französische Verteidigung. Das Damengambit war eine
Lieblingswaffe Marshalls, doch verstand es Lasker, es in für den Gegner unersprießliche
Bahnen zu lenken. An der Französischen Verteidigung hielt der amerikanische Meister
deshalb so hartnäckig fest, weil sein Gegner gegen sie keinen nennenswerten Vorteil
erzielte.
Nach drei Partien stand es 3:0 für den Weltmeister. Marshall
war indes noch nicht geschlagen. Davon zeugten die nächsten drei Begegnungen des
New-Yorker Teils des Wettkampfes, die nach zähem Ringen remis endeten. Anschließend
übersiedelten die Kontrahenten nach Philadelphia, wo sie weitere drei Partien
absolvierten. Je ein Treffen konnten die Schachfans in Baltimore und Chicago erleben, dann
wurden drei Begegnungen in Memphis ausgetragen, während sich der Abschluß des
Wettstreits wieder in New York vollzog.
Der Wettkampf wurde durch die Ortswechsel zwar in sechs
Abschnitte geteilt, seinem Charakter nach zerfiel er jedoch in drei Etappen. Die erste
bestand aus den Begegnungen am Starr, die zum 3:0 führten. Die zweite eine
originelle Mittelphase umfaßte die nächsten acht Partien, von denen sieben remis
ausgingen und eine von Lasker gewonnen wurde. Die dritte Etappe am Schluß des Wettkampfes
machte wieder die uneingeschränkte Überlegenheit des Weltmeisters deutlich: vier Partien
vier Siege!
Der Wettkampf Lasker - Marshall endete erstmals in der
Geschichte des Schachs mit einem hundertprozentigen Ergebnis von 8:0! Dieses Resultat
bereitete nicht nur Marshall, sondern auch ... Tarrasch eine Enttäuschung. Immerhin war
er auf seinen Sieg über den Amerikaner (8 :1) mächtig stolz und glaubte, daßdas
Ergebnis nicht zu überbieten sei. Damals trat er auf einem Bankett, das der Nürnberger
Schachklub ihm zu Ehren gab, mir einer Erklärung auf, in der er sagte: ,,Nach diesem
meinem neuen und bedeutendsten Erfolg glaube ich nicht, daß die Schachwelt irgendeinem
anderen mir gegenüber den Vorrang geben kann. In der Tat: Es ist weitaus schwerer, den
jungen Marshall zu besiegen als den hochbetagten Steinitz! ... Die Schachwelt muß in
Gestalt ihrer führenden Organisationen in Deutschland und Amerika, d. h. des Deutschen
Schachbundes und der amerikanischen Klubs, akzeptable Bedingungen schaffen, die uns
animieren und wenn nötig zwingen, in einen Zweikampf einzutreten. Wenn die Schachwelt es
wünscht, wird sie den Wettkampf Lasker - Tarrasch erhalten."
Das Treffen zwischen Lasker und Marshall war der erste Wettkampf
um die Weltmeisterschaft im neuen Jahrhundert. In ihm deuteten sich gleichsam die
Tendenzen künftiger derartiger Auseinandersetzungen an. Diese waren nicht mehr durch eine
Vielzahl verschiedener Eröffnungen geprägt, sondern der Kampf auf höchstem Niveau lief
zunehmend auf die Verteidigung neuester Ideen und solider elastischer Eröffnungssysteme
hinaus.